Religiöse Unreinheit vs. industrielle Verschmutzung in Indien
Dieser Essay entstand im WiSe23/24 Rahmen des Seminars „Dunkelgrüne Religion – Religiosität & Spiritualität als Transformationsdesign für eine Andere Welt?“ unter der Leitung von Dr. Wolfgang Kapfhammer an der LMU. Die Bilder sind in meinem Freiwilligen Jahr in Indien entstanden. Quellen befinden sich im PDF.
Abstract
Der Essay beleuchtet die gegensätzlichen Perspektiven auf Umweltverschmutzung in Indien, indem er die religiöse Unreinheit im Hinduismus mit der industriellen Verschmutzung kontrastiert. Während Dalits eine traditionelle, naturverbundene Lebensweise praktizieren und als wichtige Arbeitskräfte für die Stadtreinigung fungieren, werden sie dennoch sozial ausgegrenzt und diskriminiert. Die Moderne und der Einfluss des Kastensystems haben zu einer zunehmenden Verschmutzung der Umwelt geführt, wobei Dalits besonders stark betroffen sind. Der religiöse Konflikt um den Zugang zu Wasser manifestiert sich in verbaler und physischer Gewalt gegenüber Dalits, während Industrieanlagen zur tatsächlichen chemischen Verschmutzung beitragen. Trotz ihrer Rolle bei der Sauberkeit der Städte und ihrer Bemühungen um das Gemeinwohl werden Dalits systematisch unterdrückt und ihrer Rechte beraubt.
Einleitung
In Indien befürworten einige Hindufundamentalist:innen den Brahmanismus hinsichtlich seiner erholungsbringenden Funktion für das Ökosystem. Unter dem Konzept des sogenannten zeitgenössischen Öko-Kasteismus (Contemporary Eco-Casteism) lässt sich eine elitäre Gegenbewegung zur europäischen Moderne zusammenfassen, die das hinduistische Kastensystem im Hinblick auf die nachhaltigen Beziehungen zur Natur funktional rechtfertigen und unter anderem die Lebensweise der marginalisierten Gruppe der Dalits romantisieren (Sharma 2017). Obgleich die Dalits mit ihrer umweltspezifischen Geschichte & Sensitivität wegweisend für eine nachhaltige Zukunft sein können, sind privilegierte Neobrahmanen die letzten Personen, von den man hören möchte, dass ein systemischer Rassismus zum planetarischen Wohl beitragen könnte. Hindufundamentalist:innen lassen sich einerseits von den Umweltpraktiken der Dalits begeistern, verfremden sie als naturverbundene Indigene; andererseits exkludieren die Fundamentalist:innen gleichzeitig Dalits von der Gesellschaft oder verweigern ihnen den Zugang zu öffentlichen Ressourcen, wie Wasser. Innerhalb des Themas der indigenen Naturverhältnisse und aufgrund der strukturellen Diskriminierung der Dalits durch das gegenwärtige Kastensystem in Indien portraitiert dieser Essay die Gegenüberstellung von der religiösen Unreinheit und der industriellen Verschmutzung am Gegenstand des Wassers. Zuerst stelle ich die Dalits vor, dann skizziere ich den Einfluss der Moderne auf Indien und unterstreiche die Rolle der Dalits als wichtige Arbeitskräfte für das Saubermachen der Städte, bevor ich mit dem Konflikt schließe zwischen Hindus & Dalits um den Zugang zum Wasser.
Dalits, ihr Naturverhältnis & ihre Rolle im Kastensystem
Die Dalits sind eine soziale Gruppe subalterner Personen in Indien, die historisch von tiefgreifender Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung betroffen ist. Der Begriff „Dalit“ stammt aus dem Sanskrit und bedeutet „gebrochen“ oder „unterdrückt“ (Sharma 2017). Er wird verwendet, um diejenigen zu beschreiben, die in der hinduistischen Kastenhierarchie ganz unten stehen, traditionell als „Unberührbare“ bezeichnet (Sharma 2017; Völker 2023). Das Kastensystem bildet ein System der Stratifizierung und Teilung der hinduistischen Gesellschaft, dessen hierarchische Struktur naturalisiert und religiös legitimiert wird (Sharma 2017). In der hinduistischen Kosmologie wird in den vedischen Schriften erwähnt, dass Purusha, der als „Cosmic Man“ betrachtet wird, seinen Körper für die Schöpfung opferte (Sharma 2017). Aus seinen Körperteilen entstanden gemäß der hinduistischen Mythologie die verschiedenen Kasten des Kastensystems, wobei die Brahmanen aus seinem Kopf, die Kshatriyas aus seinen Armen, die Vaishyas aus seinen Oberschenkeln und die Shudras aus seinen Füßen hervorgingen; die Dalits hingegen gehören keinem Körperteil an, sind also kastenlos (Sharma 2017; Völker 2023, 37).
Im Hinblick auf die Ökologie pflegen Dalits eine einzigartige, organische Beziehung zwischen Natur, Wissen und Gesellschaft, jenseits einer funktionalen Logik der materiellen Aneignung: Natürliche Ressourcen werden als gleichberechtigter Partner verstanden (Kumar und Jena 2024, 67; Sharma 2022). Zwar bestehen die Dalits aus unterschiedlichen Gruppen mit verschiedenen Identitäten, doch sind sie mit ihrem spezifischen Umweltbewusstsein homogen in der Beziehung zur Natur (vgl. Sharma 2023), denn sie praktizieren eine relationale Ethik im Sinne des Planeten (Reddy 2021). Ihre Naturverbundenheit äußert sich in einer Abhängigkeit von ihrer Ökologie, dem Klima und der Verfügbarkeit von Ressourcen für eine Subsistenzwirtschaft (Kumar und Jena 2024, 68, 74). Obwohl die Dalits einen ressourcenschonenden Umgang pflegen, besitzen sie im Hinduismus ein negatives Image, die Natur zu kontaminieren, weshalb sie sozial ausgegrenzt und isoliert werden (Völker 2023, 40). Als unprivilegierte Gesellschaftsgruppe sind Dalits oft verbalen sowie physischen Gewalt ausgesetzt (Völker 2023, 30; Adagale 2020).
Der Einfluss der Moderne auf Indien
Der britische Kolonialismus manifestierte das traditionelle Kastensystem, indem es mithilfe des Zensus eine konkrete Klassifizierung einführte und somit die Vagheit der Kasten-Zugehörigkeit aufhob (Sharma 2017). Die Kolonisatoren verwendeten das Kastensystem als soziale Machtstruktur und Netzwerk, mit dem Ziel ihre Macht zu stabilisieren und darüber Vorteile sowie Kapital zu verteilen (Sharma 2017). Das Paradigma der europäischen Moderne sorgte für einen Segregationsprozess der indischen Bevölkerung und die gewaltvolle Integration des kapitalistischen Systems; dabei wurden unter anderem subalterne Personen verdrängt, um sich der natürlichen Ressourcen zu bedienen (Sharma 2023). Das moderne Paradigma, das mit den traditionellen Naturverhältnissen der Dalits konfligierte, verbreitete den Cartesianischen Dualismus – eine Vorstellung, die Natur auf ein bloßes Objekt zu reduzieren (Shiva 1987; Kumar und Jena 2024, 68).
Nach der Unabhängigkeit Indiens blieben das Kastensystem sowie die damit verbundene soziale Ungerechtigkeit bestehen, wobei der indische Neoliberalismus als ein Faktor fungierte, der diese Strukturen unterstützte und bediente (Kumar und Jena 2024, 70). Die europäische Vorstellung hatte sich bereits durchgesetzt, dass Common-pool-Ressourcen frei und unbegrenzt verfügbar sind (vgl. Acheson 2011; Kumar und Jena 2024, 74, 77). Unter anderem pharmazeutische und chemische Industrieprojekte benutzten sowie verschmutzten Flüsse und Grundwasser, zumal mangelnder Umweltschutzregularien (Kumar und Jena 2024, 73). Die Verschmutzung setzte nicht nur Dalits einem erhöhten Gesundheitsrisiko wie Asthma und Krebs aus, sie zerstörte auch die Biodiversität (Kumar und Jena 2024, 71–72). Im Hinblick auf eine Marktorientierung verwendeten Dalit-Bauern für einen größeren Ertrag darüber hinaus giftige Pestizide sowie chemische Düngungsmittel in kürzeren Zeitabschnitten, statt traditionellen, organischen Dung von Büffeln, mit der Konsequenz, dass ihre Agrarböden versauerten (Kumar und Jena 2024, 75). Aufgrund dessen sahen sich Dalit-Bauern verpflichtet, ihre unfruchtbaren Agrarfelder aufzugeben und an Unternehmen zu verkaufen (Kumar und Jena 2024, 73). Vielen Dalits blieb die Möglichkeit ihre Arbeitskraft und sogar den eigenen Körper für klinische Studien zu verkaufen (Kumar und Jena 2024, 66).
Das hinduistische Kastensystem zeigt eine enge Korrelation zu den Landbesitzverhältnissen, der Arbeitsteilung sowie den Arbeitsrisiken zwischen den privilegierten Kasten und den Dalits auf (Reddy 2021, 654; Sharma 2023). Sharma untersuchte Ziegelproduktionen in Rajasthan, die unter gefährlichen Arbeitsbedingungen und niedriger Bezahlung saisonale Migrant:innen sowie lokale Dalits einstellen (Sharma 2023). Sowohl die Natur als auch die Dalits würden ausgebeutet werden (Kumar und Jena 2024, 68). Darüber hinaus gibt es eine ungleiche Verteilung ökologischer Belastungen zu Ungunsten der vulnerablen Dalits, denn der Klimawandel beschleunigt den Prozess der Bodenerosion & Degradierung (Kumar und Jena 2024, 71; Sharma 2022). Infolge der materialistischen, rationalistischen Denkweise, die in einem ökologischen Ungleichgewicht resultierte, benennen Kumar und Jena die Zwangsvertreibungen, Arbeitsbelastungen, Gesundheitsprobleme, die Zerstörung von Kultur & Bürgerrechten: „slow and invisible forms of violence“ (Kumar und Jena 2024, 66).
Dreckige Arbeit als Beitrag zur sauberen Stadt
Der Anspruch an und das Umsetzen einer „sauberen & grünen“ Weltklassestadt der Moderne segregiert Dalits im Hinblick auf Arbeitsteilung & Wohnraum (vgl. Wittmer 2023, 1358–60). In der urbanen Ökologie bilden Dalits essenzielle Arbeitskräfte der kritischen Infrastruktur; sie sind notwendig für die soziale Reproduktion, weil sie Aufgaben wie die Müllentsorgung und Abwasserreinigung übernehmen (Reddy 2021, 654–55). Wittmer forschte bei Dalit-Frauen, die sich um die Abfallentsorgung kümmern; einerseits teilen sie die Hoffnung einer sauberen und nachhaltigen Stadt, andererseits sind sie enttäuscht und fühlen sich verraten, dass sie trotz ihres sozialen Beitrags von der Gesellschaft diffamiert, wegen ihres Geschlechts stereotypisiert und systematisch ausgegrenzt werden (vgl. Wittmer 2023). Eine bittere Ironie sei, dass Dalits kulturell sowie religiös als „unrein“ verleumdet werden, obwohl sie sich doch in Bezug auf Müll für eine saubere Stadt engagieren. In Anbetracht der Industrialisierung sind sie vielmehr die Opfer der ökologischen „Verunreinigung“ – der Umweltverschmutzung. In den Widerstandsbewegungen der Dalits lässt sich beobachten, dass sie zum Beispiel für die Vernichtung der Hinduismus Religion plädieren, Landbesitz, bessere Arbeitsbedingungen und mechanische Abwasserreinigungsanlagen fordern, und nicht zuletzt aus Protest zum Buddhismus oder Christentum konvertieren (Reddy 2021, 654–55).
Konflikt über den Zugang zum Wasser
Rechtlich gesehen sei jedem Menschen in Indien der gleiche Zugang zu Wasserquellen gestatten – eine Verwehrung dessen oder Diskriminierung sei sträflich (Adagale 2020, 400). Das Gesetz konfligiert allerdings mit religiösen Werten der (Un)Reinheit im Hinduismus: Dalits gelten als „unrein“ und ihre Berührung mit dem „heiligen“ Wasser könnte es verschmutzen (Adagale 2020, 401; Sharma 2022). Der Hinduismus habe in Indien einen hohen Stellenwert; die Gott-gegebene Ordnung verbiete den Kastenlosen das Recht auf natürliche Ressourcen (Adagale 2020, 402). Der religiöse Konflikt um die Ressource Wasser sei ein Rechtfertigungsgrund für Gewalt, die sich als verbale sowie physische Gewalt äußert: Dalits werden mit Humiliationen, Stereotypisierungen (als Betrunkene, Kriminelle, Diebe, Fleisch-Esser), Sachbeschädigung, Misshandlungen oder Mord konfrontiert (Adagale 2020, 405–13).
Die religiöse Unreinheit steht in Kontrast zur tatsächlichen chemischen Verschmutzung der Flüsse, Seen und des Grundwassers: Industrieanlagen verursachten das Fischsterben (Kumar und Jena 2024, 75). Doch dabei geht es vielmehr um die Kontrolle über den Zugang zu Wasser, der die Vorherrschaft des Kastensystems manifestiert (Adagale 2020, 401 ff.). Nach Ambedkar bedeutet der Zugang zum Wasser weitaus mehr als nur die vermeintliche, symbolische Verunreinigung:
This water Lake of Mahad is a public property. The Touchables of Mahad are so generous that they allow all the people to draw water; even the Muslims and persons of other religions also are free to draw water from there. Not only that, they do not have abjection to even animals drinking water from this lake. They allow all animals even those belonging to the Untouchables. […] The Touchables of Mahad are opposing Untouchables in drawing water from Mahad lake not because its water will get polluted or it will vanish in thin air. They oppose it because they do not want to accept that the Untouchables are equal to them. (Jadhav 2013, 93–94)
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Dalits verloren durch das Paradigma der Moderne und Industrieprojekte ihre Lebensgrundlage. Obwohl sie sich für das Gemeinwohl einsetzen, werden sie systematisch unterdrückt, zum Beispiel indem ihnen die Verwendung von öffentlich-zugänglichen Ressourcen gesperrt wird. Dabei werden sie Opfer von verbaler & physischer Gewalt. Trotz der Verschmutzung des (Grund)Wassers durch Fabriken, wird den Dalits ihre unverschuldete Unreinheit vorgeworfen.
Zähneputzen vor dem Unterricht (Zeltschule nahe Udupi, Karnataka)
Im Rahmen eines Freiwilligen Jahres mit ijgd / weltwärts, durfte ich ein soziales Projekt der indischen NGO FSL India besuchen: eine Zeltschule für Kinder aus Familien von Migrant:innen.
Wohnzelte der Migrant:innen
Als Ausländer blieben mir die Einblicke in die Dynamiken des Kastensystems verwehrt. Ich kann mich noch daran erinnern, dass FSL India für die Bewohner:innen der Zeltgegend einen Brunnen bauen ließ.