Der Warenfetischismus ist das Kokain des Volkes
Die Hausarbeit entstand im Rahmen des Seminars „Marx für Ethnolog*innen – Perspektiven einer kritischen Wissenschaft“ unter der Leitung von Dr. Wolfgang Habermeyer und Prof. Dr. Magnus Treiber im WiSe23/24. Literaturquellen befinden sich im PDF.
Einleitung
Die vorliegende Hausarbeit widmet sich innerhalb des umfassenden Themas des Kapitals von Karl Marx der Untersuchung des Warenfetischismus und seiner potenziellen Vergleichbarkeit mit dem metaphorischen „Opium des Volkes“. Dabei wird ein analytischer Blick auf die grundlegenden Konzepte des Warenfetischismus und dessen soziale Auswirkungen geworfen. Im weiteren Verlauf werden zunächst der Begriff der Ware erläutert sowie ihr Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Warenverhältnissen verdeutlicht. Darüber hinaus werden die Mechanismen der Warenzirkulation sowie die Entstehung des Kapitals eingehend betrachtet. Im Anschluss werden die zentralen Begriffe des Warenfetischismus, der Ideologie und der Entfremdung präsentiert und ihre Bedeutung für das Verständnis der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur herausgearbeitet. Abschließend erfolgt eine Synthese der erarbeiteten Erkenntnisse. Ziel der Arbeit sei die Einführung des Ausdrucks, dass der Warenfetischismus in seiner Wirkung auf die Gesellschaft mit dem des Kokains vergleichbar ist.
Die Ware und sein Gebrauchswert & Tauschwert
Eine Ware sei ein Produkt, das mit einer bestimmten Zweckmäßigkeit ein gesellschaftliches Bedürfnis bedient (Marx 1962, 57). Sie wird durch selbstständige sowie voneinander unabhängige Privatarbeiten hergestellt (Marx 1962, 57); eine Gesellschaftliche Arbeitsteilung sei also die Bedingung für eine Warenproduktion (Marx 1962, 56). Eine Ware besteht aus einem materiellen Substrat der Natur und der hinzugefügten menschlichen Arbeit (Marx 1962, 57). Marx unterstreicht dabei die Ware als ein Arbeitsprodukt, in dem sich Arbeit gewissermaßen materialisiert (Marx 1962, 52 ff.) – eine Ware sei „eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit“ (Marx 1962, 52–53).
Menschliche Arbeit lässt sich je nach Profession qualitativ, konkret unterscheiden, wodurch ein kleines Quantum komplizierter Arbeit einem großen Quantum einfacher Arbeit entspricht (Marx 1962, 57–59). Marx vergleicht die unterschiedlichen „Arbeitsquanta“ (Arbeitszeit) der Herstellung zur Ermittlung der Wertgröße einer Ware (Marx 1962, 54). Die Wertgröße einer Ware ergibt sich dabei aus dem Durchschnitt der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, die für ihre Herstellung benötigt wurde (Marx 1962, 53–54). Werden die Produktionsmittel im Herstellungsprozess verbessert, sodass sich die Produktivkraft vergrößert, so verkürzt sich die Arbeitszeit, wodurch der Wert der Ware sinkt (Marx 1962, 53, 55). „Als Werte sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit“ (Marx 1962, 54), „in geronnenem Zustand, in gegenständlicher Form“ (Marx 1962, 65). Der Wert einer Ware sei dabei „etwas rein Gesellschaftliches“ (Marx 1962, 71). Die Arbeitszeit in ihrer Quantität benennt Marx als abstrakt menschliche Arbeit(szeit) (Marx 1962, 65).
Jede Ware besitzt einen Gebrauchswert (GW) und Tauschwert (TW). Der GW spiegelt die qualitative Nützlichkeit des Gebrauchsgegenstands in seiner „Naturalform“ wider (vgl. Marx 1962, 50–62). Der TW ist eine Abstraktion von den GW und reduziert die Waren auf ein quantitatives Austauschverhältnis (Marx 1962, 51). Während der GW den Gebrauch sowie die Konsumtion der Waren beschreibt, so erlaubt der TW den unmittelbaren Vergleich sowie die Austauschbarkeit einer Ware mit allen anderen. GW und TW bilden zusammen den Doppelcharakter einer Ware (Marx 1962, 56 ff.).
Über vier Wertformen zum gesellschaftlichen Warenverhältnis
Über die vier sogenannten „Wertformen“ stellt Marx in vier Schritten das gesellschaftliche Warenverhältnis vor, also inwiefern die Werte der Waren miteinander in Beziehung stehen. Die Wertgröße der Ware reguliert das Austauschverhältnis zu anderen Waren und speist sich aus der abstrakt menschlichen Arbeit (Marx 1962, 78). Das heißt, der Wert der Waren vergegenständlicht sich als „Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit“ (Marx 1962, 77). Marx erklärt das gesellschaftliche Warenverhältnis mithilfe der vier Wertformen, nicht zuletzt, um den Ursprung des Geldes und seinen Zusammenhang mit der Warenwelt darzustellen.
(1) Die einfache, einzelne oder zufällige Wertform beschreibt mithilfe einer Formel den Zusammenhang zwischen zwei Waren über den Tauschwert: x Ware A = y Ware B (Marx 1962, 63). Ware A stünde als relative Wertform der Ware B in Äquivalentform gegenüber, wobei beide Waren auch umgekehrt eingetauscht werden können (Marx 1962, 63). Die Äquivalentform übernimmt die Funktion eines Wertespiegels und besitzt die Eigenschaft der unmittelbaren Austauschbarkeit (Marx 1962, 67, 72). Zudem erklärt Marx, „[es] ist also eine zweite Eigentümlichkeit der Äquivalentform, daß konkrete Arbeit zur Erscheinungsform ihres Gegenteils, abstrakt menschlicher Arbeit wird“ (Marx 1962, 73); Ware B als Äquivalent zu Ware A lässt sich nur über eine Abstrahierung der Arbeitszeit austauschen.
(2) Die totale oder entfaltete Wertform beschreibt den Zusammenhang aller Waren in einer nie abgeschlossenen Reihe: z Ware A = y Ware B = x Ware C = usw. (Marx 1962, 77–78). Diese Warenreihe an Äquivalenzformen zeigt ein gesellschaftliches Verhältnis, das sich in eine endlose Warenwelt aufspannt (Marx 1962, 77). Die Warenreihe lässt sich durch neue Warenarten zu einem „bunte[n] Mosaik auseinanderfallender und verschiedenartiger Wertausdrücke“ ergänzen (Marx 1962, 78).
(3) Die allgemeine Wertform ist ein weiterer kleinteiliger Zwischenschritt zur Erklärung der Funktionsweise des gesellschaftlichen Warenverhältnisses. Da die abstrakte also unterschiedslose menschliche Arbeit der Arbeitsprodukte untereinander vergleichbar sind, zeigt die allgemeine Wertform die unmittelbare Austauschbarkeit der Waren mit allen anderen in einer gesellschaftlichen Form (Marx 1962, 82). Während die einzelne und die totale Wertform ein Privatgeschäft der einzelnen Waren in einem einfachen Verhältnis oder in einer Warenreihe darstellt, so hebt die allgemeine Wertform die Vergesellschaftung der Menschen hervor, durch die jede Ware unmittelbar gegen andere Waren eingetauscht werden kann (Marx 1962, 81–82).
(4) In der Geldform wird Gold zur allgemeinen Äquivalenzform des gesellschaftlichen Warenverhältnis, nicht zuletzt weil es als Ware allen anderen Waren gegenüberstand (Marx 1962, 84 ff.), denn Gold besitzt wie jede Ware einen Gebrauchswert sowie Tauschwert (Marx 1962, 139 ff.). Zunächst beansprucht Gold das Monopol als allgemeingültiges Tauschmittel (Marx 1962, 123). Später übernimmt das Geld in Form von Münzen oder Scheinen als Zirkulationsmittel die Funktion der allgemeinen Äquivalenzform (Marx 1962, 139 ff.). Geld besitzt die Eigenart, dass sein Gebrauchswert seinem Tauschwert gleicht (Marx 1962, 143). Das Geld fungiert nur noch als Symbol für die Wertgröße der Waren, also für die den Arbeitsprodukten inhärenten abstrakt menschlichen Arbeit (Marx 1962, 140). In anderen Worten, Geld sei einerseits als Rechengeld das Maß der Werte und andererseits die „Inkarnation“ der gesellschaftlichen Arbeit (Marx 1962, 151–52).
Die Warenzirkulation & das Kapital
Die Warenzirkulation ist der Austauschprozess der Waren; er bildet den „gesellschaftlichen Stoffwechsel“ (Marx 1962, 119). Geld als Vermittler der Warenzirkulation erhält die Funktion des Zirkulationsmittels (Marx 1962, 128). Marx beschreibt die Warenzirkulation als „Metamorphose“, in der Waren in Geld und wieder zurück in andere Waren eingetauscht werden (Marx 1962, 119–21). Diese Metamorphosen-Reihe der Waren kreiert einen Kreislauf, der sich mit anderen Kreisläufen anderer Waren überschneidet (Marx 1962, 126). Hier lässt sich erkennen, dass die Warenzirkulation auf Arbeitsteilung basiert. Marx merkt an, dass die Warenzirkulation ein System gegenseitiger Abhängigkeiten bildet, obwohl Privatproduzenten unabhängig erscheinen (Marx 1962, 122). Nun gibt es zwei verschiedene Zirkulationsformen in der Warenzirkulation.
(1) In der Zirkulationsform Ware – Geld – Ware (WGW) werden Waren für den Gebrauchswert, also für die Konsumption produziert, um Bedürfnisse zu befriedigen (Marx 1962, 163). Geld wird somit als Geld gebraucht, selbstproduzierte Waren zu entäußern und benötigte Waren zu kaufen, um die eigene Existenz zu sichern.
(2) In der Zirkulationsform Geld – Ware – Geld (GWG) wird Geld investiert, um es durch die Produktion von Waren wiederum zu vermehren. Während bei WGW der Endzweck im Gebrauchswert liegt, so findet sich der Endzweck der GWG im Tauschwert selbst (Marx 1962, 146). Dieses Geld dient seinem Selbstzweck und verlangt sich zu vermehren (Marx 1962, 167). Geld wird somit als Kapital gebraucht; sie ist überschüssiges Geld, das sich durch die Reintegration in der Zirkulation akkumuliert (Marx 1962, 161 ff.).
Das (Start-)Kapital (C) wird errechnet durch die Produktionsmittel als konstantes Kapital (c) plus die Arbeitskraft als variables Kapital (v):
C = c + v (Marx 1962, 226 ff.).
(Bei den Produktionsmitteln wird der Verschleiß vernachlässigt.) Der Warenwert (W) als Kapital nach der Veräußerung der Ware hingegen errechnet sich aus den Produktionsmitteln (c) plus die Arbeitskraft (v) plus den Mehrwert (m):
W = c + v + m (vgl. Marx 1962, 226 ff.).
Das Kapital (C) unterscheidet sich vom Warenwert (W) insofern, dass (C) in der Zirkulationsform (GWG) die Kapitalinvestition darstellt und (W) das sich vermehrte Kapital nach dem Herstellungsprozess wiedergibt. Die verhältnismäßige Größe des Mehrwerts nennt Marx die „Rate des Mehrwerts“ (R) in Prozent; sie errechnet sich aus dem Mehrwert (m) dividiert durch die Arbeit (v):
R = m / v (Marx 1962, 230).
Die Lohnarbeit besteht aus der notwendigen Arbeitszeit (n), mit dessen Lohn die Arbeiter:innen ihre Existenz sichern können, und der sogenannten Surplusarbeit (s), die zusätzlich anfällt (Marx 1962, 231). Marx erklärt, dass eine Arbeiter:in einerseits für die eigene Reproduktion arbeitet und andererseits „mehr als die Hälfte [des] Arbeitstags zur Produktion eines Mehrwerts [verwendet], den verschied[e]ne Personen auf verschied[e]ne Vorwände hin unter sich verteilen“ (Marx 1962, 234). Die Rate des Mehrwerts (R), also der Mehrwert (m) dividiert durch die Arbeit (v), bildet dasselbe Verhältnis der Mehrarbeit (s) zur notwendigen Arbeit (n):
R = m / v = s / m (Marx 1962, 232).
Vom Fetisch zum Warenfetischismus
Der Fetischismus als Kult wurde mit dem Animismus assoziiert (Hornborg 2014, 127). Der Fetisch findet seinen Ursprung im 18. Jahrhundert in der Beschreibung afrikanischer Praktiken, wie etwa die Anbetung eines Objekts sowie dessen Zuschreibung übernatürlicher Kräfte (Artous 2014, 98). Marx erklärte den Fetischismus als den Wesenskern jeder Religion (Marxhausen 1987, 1105). Marx verwendete seinen erfolgreichen Impetus zur Religionskritik und borgte sich den Begriff aus den Religionswissenschaften, um zunächst den materiellen Privatbesitz oder die bürgerliche Ökonomie zu kritisieren, wie zum Beispiel den Kult der Monetaristen sowie Merkantilisten (Marxhausen 1987, 1105; Artous 2014, 101).
Später benutzte Marx den Fetischismus-Begriff allgemeiner für die Beschreibung der bürgerlichen ökonomischen Denkweise, die sich durch eine Versachlichung und Verdinglichung in der kapitalistischen Produktionsweise charakterisierte (Marxhausen 1987, 1105). Der Prozess der Versachlichung sei die Isolation der Individuen durch ein fortschreitende Arbeitsteilung, sodass die Beziehungen zwischen den Menschen objektifiziert erscheinen (Marxhausen 1987, 1103). Der Prozess der Verdinglichung sei die Vermittlung der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen durch Objekte, also Waren (Marxhausen 1987, 1103). Nicht zuletzt kritisiert Marx den Kapitalismus impliziert mit der Verwendung des Fetischismus-Begriffs aus der Religion.
Der Fetischismus-Begriff beinhalte eine doppelte Bewegung: eine „Personifizierung der Sachen und [eine] Versachlichung der Produktionsverhältnisse“ (Artous 2014, 102). Während der animistische Fetischismus-Begriff die Verhältnisse zu Dingen als wären sie Personen beschreibt, so basiere der kapitalistische Fetischismus von Marx auf einer ideologischen Illusion, in der, umgekehrt, soziale Verhältnisse als Verhältnisse zwischen Dingen gesehen werden (Hornborg 2014, 127). In seinem Werk geht es Marx nicht um übernatürliche Objekte, sondern um die Verdinglichung der (historisch-determinierten) sozialen Beziehungen, die sich in den Arbeitsprodukten materialisiert haben (Artous 2014, 98).
Der Warenfetischismus ist die Vorherrschaft der Warenproduktion, die mit einer neuen gesellschaftlichen Form sowie ihrer Intransparenz einhergeht (Artous 2014, 97). Die Intransparenz besteht darin, dass die Produzent:innen der Privatarbeiten nur die Verhältnisse der Sachen sehen, statt der unmittelbaren gesellschaftlichen Verhältnisse der abstrakten menschlichen Arbeiten (Marx 1962, 87). Im Austausch setzen Arbeiter:innen ihre Arbeitsprodukte als Werte gleich, womit sie ihre menschlichen Arbeiten gleichsetzen – „Sie wissen das nicht, aber sie tun es“ (Marx 1962, 88). Der Wert verwandelt das Arbeitsprodukt in eine „gesellschaftliche Hieroglyphe“ (Marx 1962, 88). Der Warenfetischismus verschleiert also das gesellschaftliche Warenverhältnis, das nur noch als Relationen zwischen Dingen wahrgenommen wird und die sozialen Verhältnisse ausblendet (u.a. Hornborg 2014, 121). Der Warenfetischismus, der sich in Waren, Wohlstand, Macht, Lohn, Profit usw. realisiert, sei zwar materiell konkret, doch besitzt er gleichzeitig diesen mysteriösen Charakter (Roland Boer 2012, 204). Er mystifiziert ökonomische Verhältnisse, indem die Arbeitsprodukte unabhängig von ihren gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen betrachtet werden (Marxhausen 1987, 1103–6). Er „beschattet“ sozusagen die sozialen Verhältnisse der Objekte (Hornborg 2014, 121) und verdeckt somit auch die damit einhergehende Ausbeutung (vgl. Hornborg 2014, 131).
Warenfetischismus als Ideologie
Im Werk „Die deutsche Ideologie“ erklären Friedrich Engels und Karl Marx ihren Ideologie-Begriff: Eine Ideologie sei ein Herrschaftsinstrument, eine Praxis zur Aufrechterhaltung sowie Legitimation von Macht und Herrschaft, indem sie eine sogenannte „Ökonomie des Wissens“ erschafft, die die Menschen täuscht und manipuliert (Bluhm und Bohlender 2010, 43, 51). Marx und Engels verwenden unter anderem die Metaphern der „Camera Obscura“, um die Funktionsweise einer Ideologie zu visualisieren: Sie illustriert eine Ideologie als eine Wahrnehmungsstörung oder Verdrehung, bei der die geistige Welt auf den Kopf gestellt wird (Bluhm und Bohlender 2010, 46, 48).
Darüber hinaus funktioniert der Ideologie-Begriff durch den Zusammenhang zwischen einerseits (1) der geistigen Welt der Menschen, also dem Bewusstsein, den Ideen, den Vorstellungen und andererseits (2) der materiellen Welt als Äquivalent, also der materiellen Tätigkeit sowie dem Warenverkehr der Menschen (vgl. Bluhm und Bohlender 2010, 45). Die Produktion der Gedanken und Werte seien verbunden mit der Produktion und der Zirkulation von Waren (Bluhm und Bohlender 2010, 45). Dies ginge auch einher mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, in der Arbeit in Form von geistiger und materieller, einfacher und komplexer, also qualitative und quantitative Arbeit voneinander getrennt werden (Bluhm und Bohlender 2010, 47, 50, 53). Eine Ideologie zielt als menschliches Produkt auf ihre eigene Reproduktion, Verfestigung und Autonomisierung (Bluhm und Bohlender 2010, 49, 52). Marx und Engels adressieren die Opfer („Beherrschten“) unter dem ideologischen Herrschaftssystem und identifizieren die herrschende Klasse, die Elite, das Bürgertum als die Handlungsagenten, die durch ihre materielle Macht Einfluss auf die geistige Welt nehmen (Bluhm und Bohlender 2010, 52, 56).
Marx und Engels bestätigen zwar die Tradition der Aufklärung, distanzieren sich jedoch von den Junghegelianern, die von einer Bewusstseinsänderung durch eine Neuinterpretation des Bestehenden ausgehen (Bluhm und Bohlender 2010, 42–44). Marx und Engels kritisieren dabei, dass die Junghegelianer im ideologischen Rahmen verbleiben, weil sie die Verbundenheit der sozialen, materiellen sowie geistigen Verhältnisse nicht berücksichtigen (Bluhm und Bohlender 2010, 44). Eine Bewusstseinsänderung ist nicht allein durch eine geistige Kritik möglich, sondern eben durch einen praktischen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse (Bluhm und Bohlender 2010, 46). Das Werk von Marx und Engels lässt sich ideologietheoretisch lesen, als eine Aufklärung über das Herrschaftsverhältnis, oder aber auch revolutionstheoretisch, als eine Darstellung eines Klassenkampfes zwischen Bürgertum und Proletariat (Bluhm und Bohlender 2010, 49, 57). Marx und Engels prophezeiten eine Radikalisierung des Klassenkampfes als ein Ausgangspunkt für eine Revolution geistiger sowie materieller Art (Bluhm und Bohlender 2010, 54–55).
Der Warenfetischismus, so wie die Religion, sind Ideologien. Der Fetischismus befördert ein verkehrtes Bewusstsein – ein „Schwebebewußtsein, das seinen wahren Grund und Boden nicht kennt“ (Marxhausen 1987, 1106). Wie eine Camera Obscura stellt der Fetischismus die geistige Welt auf den Kopf (Roland Boer 2012, 204). Warenfetischismus und Religion korrelieren teilweise, denn beide Ideologien finden Machtstrukturen in der Realität, sowohl geistiger als auch materieller Art, und beide basieren auf einem falschen Bewusstsein, das es aufzudecken gilt (vgl. Roland Boer 2012, 204–5). Wichtig sei zu verstehen: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen“ (Marx 2009, 170; vgl. 1962, 88), also der Mensch selbst erschafft Strukturen, die ihn wiederum beherrschen.
Die Entfremdung im Warenfetischismus
Fetischismus bewirkt Entfremdung (Marxhausen 1987, 1102 ff.). Während der Fetischismus sich auf die Wahrnehmung in der Gesellschaft bezieht, so beschreibt die Entfremdung ein subjektives Empfinden auf eine irrationale Produktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft, in der Menschen repetitive, monotone Arbeiten ausführen und als gesellschaftliches Wesen ihren sozialen Sinn verlieren (u.a. Rasmussen 1975, 49; Marxhausen 1987, 1102; Artous 2014, 100). Die Entfremdung ist der Ausdruck der Herrschaft des Kapitalverhältnisses im Produktionsprozess (Marxhausen 1987, 1100; Ollman 1977, 132; Artous 2014, 106). Die Entfremdung hat physische, psychische sowie soziale Auswirkungen, und äußert sich insbesondere in der Perspektivlosigkeit der Menschen (Ollman 1977, 131, 134; Marxhausen 1987, 1106). Sie betrifft sowohl das vulnerable Proletariat als auch die Kapitalist:innen (Ollman 1977, 132).
Die Entfremdung ist der Oberbegriff für die Trennung zwischen dem Individuum und seiner Arbeit, die Trennung zwischen Arbeiter:innen und deren Arbeitsprodukten, und die Trennung zwischen Individuen untereinander (Ollman 1977, 133–34). Die erste Trennung bezieht sich auf den Mangel der individuellen Entscheidungsfreiheit über die Art und Weise der Arbeit (Ollman 1977, 132) und geht mit dem Verlust der Kontrolle der Arbeitsorganisation seitens der Arbeiter:innen einher (Artous 2014, 106). Die zweite Trennung resultiert aus der Abkapselung der Arbeiter:innen von den Mitteln der Produktion sowie ihres Arbeitsprodukts (Artous 2014, 106), indem die Arbeit selbst zur Ware und kaufbar wird. In der dritten Trennung veranschaulicht die Entfremdung die Isolation der Individuen durch die Arbeitsteilung, wodurch die Ideologie Einfluss auf die soziale Ordnung nimmt; sie beeinflusst zum Beispiel den gesellschaftlichen Rahmen, in dem Konflikte ausgetragen werden (Bluhm und Bohlender 2010, 47–48) oder verhindert Kooperationsmöglichkeiten (Ollman 1977, 133–34).
Marx sieht den Kommunismus als Lösung zur Beseitigung der Entfremdung, weil in ihm der Mensch als soziales Wesen und sein Bewusstsein zurückkehren (Ollman 1977, 132, 135). Der Kommunismus gehe einher mit der Aufhebung der Arbeitsteilung und der Auflösung sozialer Klassen (Ollman 1977, 135).
Synthese & eigene Gedanken
Eine Ware ist ein Arbeitsprodukt, das durch menschliche Arbeit geschaffen wurde. Äquivalent ist Arbeit auch eine Ware, da es wie ein Handelsobjekt gekauft und verkauft werden kann. Die Loslösung, also die Trennung der Arbeit von der Person, führt zu einer Entfremdung des Menschen. Hornburg fragt gewitzt, dass wenn wir eine Ware als eine Verkörperung der menschlichen Lebensenergie konsumieren, ja sogar essen, wäre das dann nicht Kannibalismus (Hornborg 2014, 133).
Betrachten wir das gesellschaftliche Warenverhältnis oder die Warenwelt, besitzt eine Ware nur den Wert einer Privatarbeit, während der Wert des Naturstoffs als materielles Substrat der Natur nicht existiert. Im Kapitalismus wird die Natur, wie zum Beispiel Luft, Boden, Holz usw., als kostenlose Ressource betrachtet, also als Gebrauchswert ohne Wert (Marx 1962, 55). Die Konsequenzen der Arbeit sowie der Produktionsverhältnisse werden weder im Hinblick auf ihre soziale noch eine ökologische Entwicklung reflektiert. Mit Marx lässt sich auch die Ausbeutung der Natur erklären.
Arbeit bildet den Wert des Arbeitsprodukts; der Wert wiederum verschleiert die Arbeit über den Weg der Geldform. Was bleibt, ist der Schein eines Verhältnisses zwischen Waren als ein Markt objektiver Konsumgegenstände, nicht jedoch ein gesellschaftliches Verhältnis der menschlichen Arbeit. Dieser irreführende Schein ist Teil des Warenfetischismus. Der Warenfetischismus ist eine ideologische Verzerrung, die spezifisch mit der kapitalistischen Produktionsweise verbunden ist und die Waren als quasi-autonome, gesellschaftliche Wesen erscheinen lässt. Als Ideologie ist der Warenfetischismus ein Herrschaftsinstrument, um Machtstrukturen sowie materielle Akkumulation zu legitimieren. Er prägt das Bewusstsein der Menschen, indem er durch die Wertform die Arbeit in den Waren verdeckt und mystifiziert. Der Warenfetischismus führt durch seine Arbeitsteilung und kapitalistischen Produktionsform zu einer Entfremdung des Menschen.
Innovationen und (technologische) Entwicklungen richten sich in einer kapitalistischen Gesellschaft nach dem Konzept der Ware aus: Sie entstehen durch eine gesellschaftliche Arbeitsteilung, bedürfen eines Gebrauchswertes sowie eines Tauschwertes, und werden dem gesellschaftlichen Warenverhältnis hinzugefügt. Das Kapital als akkumulierte, menschliche Arbeit übernimmt in diesem Kontext neben seinem Selbstzweck der Vermehrung die Funktion eines kreativen Impulses. Das Kapital befindet sich nicht nur in einer „rastlosen Bewegung“ (Marx 1962, 168), sie verkörpert selbst eine Bewegung und bewegt Arbeiter:innen zur Produktion der Waren von Morgen. „Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise“ (Marx 1962, 791) und bestimmt darüber hinaus auch über die Konsumption der Zukunft. Dadurch, dass der Natur kein Wert zugesprochen wird, kann der Kapitalismus zu einer kreativen Zerstörung des Planeten führen (Hornborg 2014, 133). Historisch betrachtet verursachte der Kapitalismus Elend, Knechtschaft, Ausbeutung, Empörung usw. (Marx 1962, 790–91); auch griff er zurück auf Gewalt: „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz“ (Marx 1962, 779).
Schluss
„Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks“ (Marx 2009, 171) – ist der Warenfetischismus nicht auch das Opium des Volkes? Religion und Warenfetischismus bilden jeweils eine Ideologie. Als Ideologien kreieren beide ein Bewusstsein, das sich über Machtstrukturen sowie materielle Verhältnisse manifestiert. Der Unterschied zwischen der Religion und dem Warenfetischismus besteht darin, dass die Religionskritik von Marx erfolgreich war, in dem Sinne, dass Individuen im Verlauf der Aufklärung die Freiheiten besaßen an Religion teilzunehmen oder nicht. „[…] Religion [ist] das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat“ (Marx 2009, 170). Die kapitalistische Gesellschaft hingegen hat den Warenfetischismus nicht überwunden, zumal der Kommunismus als Utopie sich in der Sowjetunion oder in der Volksrepublik China nicht in vollem Umfang realisiert hat. Der Warenfetischismus ist in der Tat eine Droge des Volkes – als Ideologie verzerrt er das Bewusstsein der Menschen – doch vielleicht ist er nicht Opium, denn das Volk sei nach Marx nicht zufrieden mit dem Kapitalismus. Für eine Revolution müssten sich die revolutionären Prozesse beschleunigen und vielleicht zu einer Überdosis anhäufen. Der Warenfetischismus als Ausdruck des Kapitalismus ist eher das Kokain des Volkes. Es wirkt zunächst euphorisch, doch solange uns keine Rehabilitation gelingt, bleibt uns nur der Kollaps.